Sunday, December 8, 2019

2019.12.13

Markus Kersten, Blut auf Pharsalischen Feldern Lucans Bellum Ciuile und Vergils Georgica. Hypomnemata, Band 206. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Verlag, 2018. Pp. 358. ISBN 9783525310557. €100,00.

Reviewed by Wolfgang Polleichtner, Eberhard-Karls-Universität Tübingen (wolfgang.polleichtner@philologie.uni-tuebingen.de)

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Kersten legt mit seiner Rostocker Dissertation ein in fünf Kapiteln sehr nützliches Buch zum intertextuellen Verhältnis von Vergils Georgica und Lucans Bellum civile respektive Lukans Rezeption von Vergils Lehrgedicht vor. Kerstens Beitrag stellt einen bemerkenswerten ersten Ansatz zur Schließung einer großen Forschungslücke dar.

Er begründet in seinem einleitenden ersten Kapitel (9-40) die Notwendigkeit einer Studie wie der seinen mit drei Punkten (10): Erstens seien die Georgica von literarhistorischer Wichtigkeit, und Lucan selbst lege großen Wert darauf, literaturgeschichtliche Dimensionen auch des eigenen Werks im Blick zu haben. Zweitens sei Lucans Opus „in gewisser Weise ein >Prequel< der Georgica". Drittens sei es erhellend, die intertextuellen Geflechte von Lucans Epos „chronologisch" zu betrachten. Daher versuche er, so Kersten, Lucan durch die Brille eines „metapoetischen Realismus" zu lesen. Diesen Begriff definiert Kersten auf S. 14 (vgl. auch 20): Er versteht darunter „die direkte oder indirekte Präsenz von literarischer Kultur" in einem Text in ihren Auswirkungen auf den Autor, sein Publikum und die Charaktere seiner eigenen Dichtung. Kersten will von der einseitigen Festlegung Lukans als „Anti-Vergil" weg zu einer umfassenderen Evaluation von Lukans Rezeption auch der Georgica, nicht nur der Aeneis Vergils gelangen (bes. 35f.). Dabei sei nun natürlich zu beachten, um keine Anachronismen zuzulassen, dass die Georgica erst nach der erzählten Zeit von Lucans Epos verfasst worden seien, so Kersten. Wenn Lucans Caesar oder andere Figuren nun doch Vergil gelesen zu haben scheinen, sei „das nicht realistisch, sondern metaleptisch" zu erklären (27, vgl. 313). Diese Metalepse sei für den Leser der Zeit Neros ein starkes Signal dafür, dass seit dem erzählten Bürgerkrieg die Zeit nicht stehengeblieben sei. Die Georgica seien ja auch nicht das erste Gedicht, das von der Kulturentstehung und ihrer Bewahrung handele.

Drei Dinge möchte ich anmerken: A) Die besondere Bedeutung von zeitlichen Strukturen, Kenntnis von Literatur und künstlerisch produktivem Umgang mit ihr bei Lucan beschreibt die Forschung immer wieder.1 Es ist prinzipiell gut, dass Kersten Wert darauf legt, narratologisch genau zwischen dem unterscheiden zu wollen, was die Figuren in Lucan Epos im Gegensatz zu ihren Lesern schon wissen konnten und was nicht.

B) Die Aeneis darf in der Textarbeit jetzt allerdings nicht zugunsten der Georgica unbeachtet bleiben, sondern muss gemeinsam mit den Georgica und vielen anderen Bezugstexten als intertextueller Hintergrund von Lucans Schaffen gewürdigt werden. So würde zum Beispiel der Hinweis auf die Theaterbauten in Karthago (Aen. 1.427ff.) und ihren für Vergil zeitgenössischen Hintergrund den Theaterbauer Pompeius bei Lucan kontrastieren (BC 1.132f.). Gerade die Tatsache, dass Pompeius träumt (BC 7.9ff.), wäre angesichts von Didos Traum (Aen. 4.465-473) hinsichtlich der Unterschiede und Gemeinsamkeiten dieser Träume von Bedeutung.2

C) Der Begriff „Prequel" und der Gegenbegriff „Sequel" sind besonders durch die Filmindustrie (z.B. Spartacus), aber auch in der Literatur etwa schon durch James Fennimore Coopers Lederstrumpf-Zyklus oder unlängst durch Joanne K. Rowlings Harry Potter and the Cursed Child in ihrer Bedeutung sehr fest geronnen. Eine Neudefinition des Begriffs „Prequel" im Sinne von Kersten (27), der ihn nur noch auf ein Werk reduzieren will, das als ὕστερον im Hinblick auf seine Abfassungszeit bei der Zeit der Handlung das πρότερον sein möchte, erscheint hinsichtlich des Verhältnisses von Lucans Epos und Vergils Georgica unglücklich, da das heutige Publikum gewohnt ist, dass sich bei Prequels und Sequels deren Handlungsstränge mit dem Hauptwerk ineinander verweben oder gar durch die spätere Erzählung aufgeklärt oder ergänzt wird, was vorher unklar war. In Lucans Fall scheint es aber nach Kerstens Abhandlung eher so zu sein, dass das früher abgefasste Werk Vergils für das Verständnis des späteren Werks Lucans als Katalysator verwendet wird, nicht umgekehrt. Eine gar ausschließlich auf die Georgica hin ausgerichtete Erzählstruktur oder einen solchen Plot aber gibt es bei Lucan auch nicht (vgl. dazu Kerstens eigene Diskussion im Schlusskapitel, 313f.). Lucans Vorgehen mit einer Arbeitstechnik heutiger Autoren von Dreh- oder anderen Büchern zu vergleichen ist sicher interessant, weckt aber mit dieser Begrifflichkeit obendrein Konnotationen einer industriellen Massenfertigung neuzeitlicher Prägung. In diesem Zusammenhang fehlt auch eine Diskussion über den Stellenwert von Ovids Werken im Verhältnis zu denen Vergils (29); denn gerade das Proömium und besonders die Sphragis der Metamorphosen, aber auch Horazens Ode 3.30 wären zum Beispiel im Zusammenhang mit Lucan 9.980-986 von Belang (11).3

Mit dem Titel „Caesar und die Umwelt" ist das zweite Kapitel (41-154) überschrieben und folgt gegenwärtigen Forschungstrends, literarische Räume literaturwissenschaftlich zu untersuchen und ecocriticism im Zuge des environmental turn in den Geisteswissenschaften zu betreiben. Kersten geht allerdings nur ganz kurz auf die literaturwissenschaftliche Aufarbeitung von Aspekten der räumlichen Gestaltung von Umwelt in der Klassischen Philologie ein (42 Anm. 8).

Kersten gelingt es, in genauer philologischer Arbeit zu zeigen, wie die Interpretation der Figur Caesars vom initialen Blitzgleichnis (1.143ff.) an durch die Hinzuziehung der Lehrdichtung von Lukrez, Arat, Vergil und auch Ovid als Hintergrund für Lucans Verse an Tiefe gewinnt. Caesars Destruktivismus führe zu Neuem, sei aber in höchstem Grade problematisch. Seine Zerstörungen würden keine Grenze kennen, Leid bedeuten, seien unrömisch und würden im Sinne gerade der Georgica obendrein von Unbildung und Unwissenheit zeugen. Auch wenn Caesar mit seiner Unkenntnis des Landlebens bei Lucan nicht allein sei, nehme dies dem Caesarbild Lucans nichts an Ambiguität. Die Georgica würden aber einen Weg aus dem Bürgerkrieg weisen können und würden in den Händen Lucans so zu einem Wink an jeden, vielleicht auch an Nero, die Chance dazu nicht zu verspielen. Denn die Deutungsmacht der Geschichte bleibe nach den mahnenden Worten des Autors an Caesar beim Leser (venturi me teque legent; 9.985). Diese Stelle lässt wieder Ovid anklingen4, und Kerstens Argumentation hätte ganz in seinem Sinne noch weiter abgesichert werden können, hätte er in diesem Kapitel beispielweise bei der Diskussion über die Bedeutung der Gewissheit des eigenen Grabes und der Furcht davor, diesen Platz nicht zu kennen (134f. gerade auch in Verbindung mit dem Motiv des Seesturms in Kapitel 2.4), die Tradition dieses Motivs im Epos von Homer bis zur Aeneis auch berücksichtigt.

In gleicher Weise arbeitet Kersten in Kapitel 3 zu Pompeius und Cato heraus, wie die Bezüge zu den Georgica Vergils Lucans Charakterisierung von Cäsars Gegenfiguren unterstützen. Ihr Scheitern sei die Folge nicht zuletzt ihrer Fehler: der Eitelkeit des Pompeius und der Realitätsverweigerung Catos. Ihr Verdienst liege in ihrer richtigen Absicht, den Tyrannen Cäsar zu verhindern. Lucan erzähle auch den Weg ihrer Geschichte von der elenden Niederlage zur glänzenden Legende. Ergänzend hätte Kersten gerade bei seiner Behandlung des Bienengleichnisses (BC 9.283-302) darauf hinweisen können, dass Lucan in der Umformung des Bienenschwarms aus dem siebten Buch der Aeneis Vergils eigenem Auftrag aus den Georgica nachkommt, sein Werk weiterzudichten (4.146f.).5 Dies wird auch im Hinblick auf das Bienenwunder in 7.161 wichtig (vgl. 242 Anm. 81). Kersten könnte sich hier noch stärker auf Fratantuono stützen.6 Denn nicht nur auf der Inhaltsebene, sondern auch metapoetisch ist die Art und Weise der Verwendung von Gleichnissen wie auch des Umgangs mit anderen epischen Formelementen wie etwa Vorzeichen äußerst aufschlussreich für die Aussage eines Epos, was Kersten an sich überzeugend zu zeigen gelingt.

In Kapitel 4 (217-312) geht es besonders um Lucans Gebrauch von Anspielungen auf den Anfang und das Ende des ersten Buches der Georgica und deren Konsequenzen für die Interpretation besonders auch des Lobliedes für Nero im Proömium des Bellum Civile. Kersten arbeitet unter Bezugnahme auf mehrere Intertexte Lucans heraus, dass dieses Lob dann, aber nur dann ein Lob darstelle, wenn Nero entsprechend handeln würde und es ihm vielleicht gelänge, das bereits von Augustus versprochene neue goldene Zeitalter auch wirklich zu realisieren. Lucan als Dichter jedenfalls baue an diesem goldenen Zeitalter gerade durch seine Bezugnahmen auf die Georgica. Wie bereits oben angedeutet, hätte Kerstens Argumentation etwa Ovids Schilderung der vier Weltalter (Met. 1.72-150), besonders des goldenen Zeitalters (Met. 1.89-112), und Ovids Bezugstexte einbeziehen müssen.7

Im letzten Kapitel (313-318), in dem Kersten zusammenfasst, dass Lucans Werk in den Versen Vergils oft ein Gegenbild findet, aber eben auch oft ein Ideal sehe, zeigt er zusätzlich an zwei Beispielen, dass Lucans Werk gleich nach seinem Tod durch Tacitus gerade in diesem Sinne rezipiert worden sei: A) Die Stelle ann. 15.70 zeigt den sterbenden Lucan, wie er sein eigenes Werk und die Aeneis offenbar zusammendenkt. Laut Kersten wird an dieser Stelle nicht deutlich, ob Lucan oder Tacitus das Verhältnis zwischen beiden Epen als eher antagonistisch oder das Gemeinsame suchend betrachten. B) Dial. 13.5f. zitiert georg. 2.475. Dieser Vers spricht von dem Wunsch, die Flucht vor der Politik und der Stadt anzutreten. Die Dichtung entspringe dem goldenen Zeitalter (12.3). Dieses Arkadien Vergils, das Maternus sich wieder wünscht, erkenne, so Kersten, der Dichter bei Tacitus genau in seiner geistigen Wirklichkeit der Kultiviertheit. Maternus spreche aber in diesem Zusammenhang nun von seinem eigenen Grab und seiner Gestaltung und erinnere damit an Lucans Hinzufügung der Rede vom eigenen Grab zum Lob des Landlebens (BC 4.392f., an sich schon eine Anspielung auf georg. 2.490), was eine kühne, aber interessante Möglichkeit wäre. Maternus werde, so Kersten, zu einem Abbild Lucans. Kersten legt durch seine Ausführungen nahe, dass schon Tacitus das komplexe Verhältnis von Lucan zu Vergils Werken bewusst gewesen sei.

Ein Abkürzungsverzeichnis (319), ein ausführliches Literaturverzeichnis (320-350) und ein hilfreiches Stellenverzeichnis (351-358) beschließen das Buch.8



Notes:


1.   Vgl. z.B. J. Wilson Joyce: Time as and Emotive Factor in Lucan's Pharsalia. Diss. masch. Austin 1982, 2 und 6.
2.   Ähnliches gilt für Aen. 9.446ff. (32 Anm. 108) und die Bedeutung dieser Stelle in der Tradition des Epos. Vgl. B. Effe: Epische Objektivität und subjektives Erzählen. ‚Auktoriale' Narrativik von Homer bis zum römischen Epos der Flavierzeit. Trier 2004, 38f.
3.   Vgl. C. Wick: M. Annaeus Lucanus. Bellum civile. Liber IX. Kommentar. München 2004, 416, BC 7.207-210 (dazu N. Lanzarone: M. Annaei Lucani belli civilis liber VII. Florenz 2016, 249), BC 8.863-872 und Kerstens eigene Diskussion letzterer Stelle (183-186) sowie F. Schlonski: Studien zum Erzählerstandort bei Lucan. Trier 1995, 154f. Pompeius' und Caesars Nachruhm stehen nebeneinander. Der Gebrauch des Wortes fulmen durch Lucan in 1.151 und in 8.864 ist kaum Zufall. Intratextuelle Bezüge ergänzen die intertextuellen. Vgl. zur Bedeutung letzterer Stelle schon R. Mayer: Lucan. Civil War VIII. Warminster 1981, 189. Auch die Rolle des Dichters als vates in diesem Zusammenhang zu beachten ist wichtig. Vgl. F. Ripoll: Peut-on considérer la Pharsale comme une "épopée tragique"?, in: V. Berlincourt, L. Galli Milić, D. Nelis (edd.): Lucan and Claudian. Context and Intertext. Heidelberg 2016, 61-76, hier: 63f.
4.   Vgl. C. Wick a.a.O., 419.
5.   Lucan ist hiermit nicht allein. Vgl. Columella, mit dem Lucan am Beginn einer großen Rezeptionstradition steht. Vgl. R. Monreal: Vergils Vermächtnis: die Gartenpraeteritio in den Georgica (4, 116-148) und Typen ihrer Rezeption im Neulateinischen Lehrgedicht, in: Humanistica Lovaniensia 54, 2005, 1-47. M. Seewald (Studien zum 9. Buch von Lucans Bellum Civile: Mit einem Kommentar zu den Versen 1-733. Berlin 2008, 166) will im Bienengleichnis Lucans lediglich eine Adaptierung von Homers Bienen aus dem 2. Gesang der Ilias (84-89) sehen. Überzeugend dagegen C. Wick a.a.O., 104f.
6.   L. Fratantuono: Lucan's Bees and the Ethnography of the Pharsalia, in: P. Esposito, C. Walde (edd.): Letture e lettori di Lucano. Atti del Convegno Internazionale di Studi, Fisciano, 27-29 marzo 2012. Pisa 2015, 57-72.
7.   Vgl. z.B. die Pflüge in BC 7.852 und Met. 1.102. Weitere Parallelen bietet Lanzarone a. a. O., 516f. Siehe auch Kerstens Hinweis auf das eiserne Zeitalter auf S. 102 und seine Ausführungen auf S. 27f. zur Tradition des Lehrgedichts Vergils.
8.   Das Buch ist verlagsseitig hervorragend hergestellt und redigiert. Ungenaue Formulierungen oder gar Fehler finden sich selten. 13: Zum Cäsarbild heute fehlen entsprechende Literaturangaben; 40: „Lucans Nerolob schließlich ist unumgänglich."; 44: „Überdermination" müsste durch „Überdetermination" ersetzt werden; 173: „Genero" müsste großgeschrieben werden. Vgl. „qui" (175), und generell die Anpassung von lateinischen Wörtern an die deutsche Rechtschreibung (z.B. 202f. und auch „linguae" auf Seite 319).

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