Friday, January 24, 2020

2020.01.37

Paul Dräger, Apollonios von Rhodos. Die Fahrt der Argonauten: griechisch/deutsch. Universal-Bibliothek, 18231. Stuttgart: Reclam, 2019. Pp. 591. ISBN 9783150182314. €16,00 (pb).

Reviewed by Silvio Bär, Universitetet i Oslo (silvio.baer@ifikk.uio.no)

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Paul Dräger ist in der deutschsprachigen Philologenzunft (und darüber hinaus) als Herausgeber, Übersetzer und Vermittler zahlreicher griechischer und lateinischer Texte wohlbekannt. Seine kommentierte zweisprachige Ausgabe der Argonautica des Apollonios Rhodios ist 2002 in der mittlerweile fast schon als legendär zu bezeichnenden orangen Taschenbuchreihe des Reclam-Verlages erschienen, wurde 2010 neu überarbeitet und neu aufgelegt und liegt nun in einer abermals durchgesehenen sowie bibliographisch ergänzten Drittauflage vor. Da weder die Erst- noch die Zweitausgabe in dieser Zeitschrift besprochen wurden, scheint mir eine ausführliche Rezension an dieser Stelle angebracht.

Das Herzstück der Ausgabe besteht aus dem zweisprachigen Text, der nach dem bewährten Schema ‚links Griechisch, rechts Deutsch' angeordnet ist (S. 6–417). Es folgt ein 145 Seiten starker Kommentar (S. 421–565), der nebst den Anmerkungen zum Text auch über eine Inhaltsübersicht über das Epos, einen Familienstammbaum von Jason und Medea sowie eine Karte mit den geographischen Stationen der Argonautenexpedition verfügt. Daran schließen sich die Literaturhinweise (S. 566–572) und ein Nachwort (S. 573–591) an. Letzteres umfasst eine geraffte Einführung zu Leben und Werk des Apollonios, eine Übersicht zum Argonautenmythos vor Apollonios, Ausführungen zur narrativen Struktur und Handlungsmotivation der Argonautica sowie zu Tradition und Neuerung im hellenistischen Epos, und zum Schluss Erläuterungen zu den angewandten Übersetzungsprinzipien.

Für den griechischen Text richtet sich Dräger nach der in der Sammlung Budé erschienenen Ausgabe von Francis Vian, die bis heute die wissenschaftlich gültige Textgestalt bietet.1 Allerdings weicht Dräger von diesem Text an ca. fünfzig Stellen ab, wobei die Entscheidung in der Regel zugunsten der handschriftlichen Überlieferung bzw. zuungunsten einer von Vian übernommenen Konjektur ausfällt (eine Übersicht über die Unterschiede in der Textgestaltung findet sich auf S. 427–431). Bei der deutschen Fassung handelt es sich um eine an dem von Wolfgang Schadewaldt geprägten Prinzip des ‚dokumentarischen' Übersetzens orientierte Prosaübertragung, die dem Original so nahe wie möglich zu kommen sucht und sich dabei auch in Satzbau und Wortreihenfolge wo möglich an der Originalsprache orientiert. Dräger legt seine Übersetzungsprinzipien im Nachwort ausführlich dar (S. 587–591). Gegenüber dem Schadewaldt'schen Prinzip nennt er zwei Einschränkungen: zum einen den Verzicht auf einige von dessen Übersetzungsarchaismen wie z.B. „Prangen" für κῦδος (stattdessen: „Ruhm") oder „Landlos" für κλῆρος (stattdessen: „Land") (andere Schadewaldt'sche ‚Klassiker' wie „zehntausend" für μύριοι oder „flechtenschön" für ἐυπλόκαμος wurden dagegen beibehalten); zum anderen die Berücksichtigung der bei Apollonios auf Schritt und Tritt anzutreffenden Homerexegese, die Dräger semantisch sichtbar zu machen sucht: „z.B. ist ἀίδηλος (Schadewaldt: »vernichtend«, »abscheulich«) gemäß seiner passiven (»unsichtbar«) und aktiven Bedeutung (»unsichtbar machend«) als »unsichtbar verhängnisvoll« (1,102) wiedergegeben" (S. 590). Lexikalische Äquivalenz (also die gleichbleibende Übersetzung desselben griechischen Wortes mit demselben deutschen Wort) wurde zu erzielen versucht, sofern „es Sinn und deutsche Ausdrucksweise zuließen" (ibid.); Tropen und Figuren wurden wo möglich nachgebildet; „Ergänzungen oder Präzisierungen […] waren des Öfteren nötig" (ibid.).

Dokumentarisches Übersetzen eignet sich nicht für alle Texte und Gattungen, doch es eignet sich für Homer – und auch für Apollonios! Mögen die Eingangsverse der Argonautica (1,1–11) für sich sprechen:

Ἀρχόμενος σέο, Φοῖβε, παλαιγενέων κλέα φωτῶν
μνήσομαι, οἳ Πόντοιο κατὰ στόμα καὶ διὰ πέτρας
Κυανέας βασιλῆος ἐφημοσύνῃ Πελίαο
χρύσειον μετὰ κῶας ἐύζυγον ἤλασαν Ἀργώ.
Τοίην γὰρ Πελίης φάτιν ἔκλυεν, ὥς μιν ὀπίσσω
μοῖρα μένει στυγερή, τοῦδ᾽ ἀνέρος, ὅν τιν᾽ ἴδοιτο
δημόθεν οἰοπέδιλον, ὑπ᾽ ἐννεσίῃσι δαμῆναι.
Δηρὸν δ᾽ οὐ μετέπειτα τεὴν κατὰ βάξιν Ἰήσων,
χειμερίοιο ῥέεθρα κιὼν διὰ ποσσὶν Ἀναύρου,
ἄλλο μὲν ἐξεσάωσεν ὑπ᾽ ἰλύος, ἄλλο δ᾽ ἔνερθεν
κάλλιπεν αὖθι πέδιλον ἐνισχόμενον προχοῇσιν.

Beginnend mit dir, Phoibos, werde ich die Ruhmestaten der vor langer Zeit geborenen Männer ins Gedächtnis rufen, die entlang der Mündung des Pontos und durch die Kyanischen Felsen gemäß dem Auftrag des Königs Pelias die aus Balken gut zusammengefügte Argo zum Goldenen Vlies hin lenkten.
[5] Eine solche Kunde nämlich hatte Pelias gehört, dass auf ihn hernach das verhasste Los warte, durch die Eingebungen desjenigen Mannes, den er mit nur einer Sandale aus dem Volke kommend sähe, bezwungen zu werden. Und nicht lange danach hat deinem Spruch gemäß Iason, als er die Fluten des winterlichen Anauros zu Fuß durchquerte, [10] zwar die eine Sandale aus dem Schlamm gerettet, die andere aber dort unten zurückgelassen, da sie von den Fluten festgehalten wurde.

Der Kommentar ist, wie bereits ein Rezensent der Erstausgabe von 2002 bemerkte, „für einen Reclam-Band ungewöhnlich ausführlich", wofür „dem Autor […] offensichtlich für seine Hartnäckigkeit gegenüber dem Verlag zu danken" sei.2 In der Tat ist Drägers Kommentar aktuell der einzige deutschsprachige Gesamtkommentar zu den Argonautica des Apollonios – wenn man von den 1968 publizierten ‚Noten' von Hermann Fränkel absieht, die trotz aller Meriten doch in vielen Belangen recht eigentümlich und selektiv sowie (naheliegenderweise) nicht mehr auf dem neuesten Stand der Forschung sind.3 Der Kommentar bietet Erklärungen zu Personen- und Ortsnamen sowie zu Sitten und Gebräuchen, die angesichts ihrer Fülle in dem anspielungsreichen ‚Gelehrten-Epos' nicht nur für Laien, sondern auch für Fachleute von hohem Nutzen sind. Ferner finden sich zahlreiche Rück- und Vorverweise innerhalb der Argonautica, was das Aufspüren von Motiven und ‚roten Fäden' erheblich erleichtert, sowie ebenso zahlreiche Hinweise auf Intertexte (insbesondere auf die homerischen Epen) und auf Paralleltraditionen des Argonautenmythos. Auch die Erkenntnisse von Antonios Rengakos zur semantischen Homerexegese bei Apollonios, mit der die Apollonios-Forschung 1994 revolutioniert wurde,4 wurden in den Kommentar eingearbeitet.

Dräger hat für die hier vorliegende Drittauflage „den Band durchgesehen und das Literaturverzeichnis in strenger Auswahl aktualisiert, jedoch ohne die Neuerscheinungen in den Kommentar einzuarbeiten, um nicht [s]eine (bisher unwiderlegte) Konzeption von der inneren Einheit des Epos zu verdunkeln (Zorn des Zeus über die frevelhaften Bestattungsriten für Phrixos und Absyrtos als Leitmotiv […])" (S. 591). Wieso die These vom ‚Zorn des Zeus' als Leitmotiv der Argonautica durch die Einarbeitung neuerer Forschungsliteratur in die Anmerkungen ‚verdunkelt' worden wäre, ist mir schleierhaft.5 Meines Erachtens hätte die Neuauflage von einer moderaten Aktualisierung des Kommentares profitieren können; Dräger hätte deswegen seine Sicht auf die Handlungsmotivation der Argonautica nicht aufgeben müssen.

In der Summe kann allerdings nur konstatiert werden, dass sowohl Drägers Übersetzung als auch dessen Kommentar ein unerlässliches Arbeitsinstrument für jeden darstellen, der sich mit Apollonios' Argonautica oder auch mit antiker Epik überhaupt befasst. Auch der interessierte Laie wird mit diesem Band die richtige Wahl treffen. Und der moderate Preis stellt einen weiteren Vorteil gegenüber den leider oft sinnlos überteuerten Konkurrenzprodukten anderer Verlage dar.

Einige Formalia zum Schluss: Das Buch ist sauber redigiert; Druckversehen sind mir keine aufgefallen. Negativ sticht die m.E. minderwertige Druckqualität ins Auge – gegenüber früheren Ausgaben in der Reclam-Taschenbuchreihe liegt hier eine deutliche Verschlechterung vor. Außerdem fehlt die in der Titelei nachgewiesene Umschlagabbildung.



Notes:


1.   Francis Vian (Hrsg.) und Émile Delage (Übers.), Apollonios de Rhodes: Argonautiques, 3 Bände, Paris 1974/-80/-81.
2.   Georg Danek, in: Wiener Studien 118 (2005) 272–275: 274.
3.   Hermann Fränkel (Komm.), Noten zu den Argonautika des Apollonios, München 1968. Gesamtkommentare bieten außerdem die französischen Anmerkungen in der Ausgabe von Vian/Delage (s. Anm. 1) sowie der englischsprachige Kommentar von Peter Green (Übers., Komm.), The Argonautika by Apollonios Rhodios, Berkeley 1997 (s. dazu die Rezension in dieser Zeitschrift, BMCR 1998.12.09). Trotz seines Alters nach wie vor nützlich ist auch der Kommentar von George W. Mooney (Hrsg., Übers., Komm.), The Argonautica of Apollonius Rhodius, London et al. 1912.
4.   Antonios Rengakos, Apollonios Rhodios und die antike Homererklärung, München 1994. Siehe auch id., Der Homertext und die hellenistischen Dichter, Stuttgart 1993.
5.   Eine Skizze dieser These findet sich im Nachwort (S. 579–582), und Dräger hat ihr vor längerer Zeit eine eigene Monographie gewidmet: Die Argonautika des Apollonios Rhodios: Das zweite Zorn-Epos der griechischen Literatur, München/Leipzig 2001.

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