Sunday, May 10, 2015

2015.05.09

René Brouwer, The Stoic Sage. The Early Stoics on Wisdom, Sagehood and Socrates. Cambridge Classical Studies. Cambridge; New York: Cambridge University Press, 2014. Pp. x, 230. ISBN 9781107024212. $90.00.

Reviewed by Maximilian Forschner (Maximilian.Forschner@sophie.phil.uni-erlangen.de)

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Das Buch rekonstruiert aus den vorhandenen Testimonien und Fragmenten, was die Alte Stoa (Zenon, Kleanthes, Chrysipp) unter dem Ideal des Weisen und dem Begriff der Weisheit verstanden hat, wie Weisheit erreicht wird und ob die Schulhäupter einer historischen Person (sich selbst oder Sokrates) Weisheit zugesprochen haben. Den Ausgang nimmt Brouwer von zwei überlieferten stoischen Definitionen: Weisheit sei „Erkenntnis der göttlichen und menschlichen Dinge (theiōn te kai anthrōpinōn epistēmē)" (SVF II, 35 = LS 26A = FDS 15), und Weisheit sei „passende/nützliche Sachkunde (bezüglich des besten Lebens) (aristēs zōês) epitēdeia technē" (ps.-Galen, De historia philosophiae 5.602.19-603.2 Diels, DG). Er weist über detaillierte Quellenvergleiche nach, dass die erste Formel eine genuin stoische Prägung ist und in ihren begrifflichen Elementen (Erkenntnis - göttliche Dinge - menschliche Dinge) der stoischen Einteilung von Philosophie in Logik – Physik – Ethik entspricht. Dabei bedeutet (menschliche) Weisheit nicht Allwissenheit, sondern eine feste, unerschütterliche Disposition, die den Besitzer irrtumsfrei am aktiven, die Welt gestaltenden göttlichen Prinzip teilhaben lässt (p. 8-41). Den Sinn der zweiten Definition versteht Brouwer so, dass die Sachkunde des Weisen diesen befähigt, die (sc. vom fachkundigen Gott entwickelte) Struktur der Welt zu verstehen und ihr entsprechend zu handeln (p. 41-49).

Im 2. Kapitel (p. 51-91) behandelt Brouwer die Frage, wie man weise wird, d. h. genauer, wie im Sinn der Stoa der Wechsel (metabolē) vom Status des Nichtweisen zum Status des Weisen zu verstehen ist. Brouwer interpretiert (etwas spekulativ, da nur über verschiedene physiologische Seelenbestimmungen erschlossen, nicht über eine explizite Quelle belegbar) den Umschlag ‚physiologisch' als (plötzliche, instantane) Veränderung der Seele des Nichtweisen (als Mischung aus Luft und Feuer) in reines Feuer. Der Weise wird so in seiner Seele göttlich. Er handelt, so Brouwer, wie zuvor, doch nunmehr völlig fehlerfrei. Der Besitz von Weisheit müsse nicht (wie Plutarch in seiner Polemik meint) mit dem Bewusstsein verbunden sein, weise zu sein. Wie jemand, der in den optimalen Stand einer Fachkunde gelangt ist, sich dessen erst allmählich in der Praxis bewusst wird, wird auch dem plötzlich weise Gewordenen sein Weisesein erst allmählich bewusst. Auch wenn die Stoa gelegentlich den Übergang zur Weisheit als Initiation bezeichnet hat, wird er nicht mit einem rituellen oder philosophischen Erlebnis der Illumination assoziiert.

Im Kapitel 3 (p. 92-135) geht Brouwer der Frage nach, ob die Stoa je eine historische Person als weise identifiziert und bezeichnet hat. Die Quellen besagen nach seiner Sichtung (a), dass keiner der Stoiker sich selbst als weise bezeichnet hat, und (b), dass sie über mythologische Hinweise erklärten, ein Weiser trete äußerst selten auf ,wie der äthiopische Phoenix'.

Das abschließende Kapitel 4 (p.136-176) erläutert den philosophischen Kontext der hellenistischen Diskussion um Figur und Begriff des Weisen. Die Stoiker verstanden sich als Sokratiker. Sokrates (wie Platon und Xenophon und die ‚kleinen Sokratiker' ihn zeichnen) ist ihr Vorbild im Verständnis von und Bemühen um Weisheit. Sokrates hat sich selbst Weisheit abgesprochen und sein Leben ganz dem Streben nach Weisheit gewidmet. Für Poseidonios (vgl. DL VII, 91) ist Sokrates im Status eines Fortgeschrittenen (ein prokoptōn). Eine einzige Quelle (Tatian, Oratio ad Graecos 3.2) erklärt, Zenon habe ‚Sokrates zusammen mit Herakles und wenigen anderen' zu den Gerechten (in Tatians eschatologisch- christlicher Redeweise), d. h. zu den Weisen gezählt. Brouwer will nicht ausschließen, dass Sokrates am Ende seines Lebens (nach Szenen von Platons Kriton und Phaidon) den Stoikern das Bild eines weise Gewordenen geboten bzw. als jemand gegolten hat, der bereits zuvor weise war, jedoch um sein Weisesein noch nicht wusste. Klar ist jedenfalls, dass Epikur sich entschieden gegen das sokratische Ideal stellte und keine Bedenken hatte, sich selbst und seiner Lehre das Prädikat der Weisheit zuzusprechen.

Die vorliegende Monographie von René Brouwer bietet die derzeit beste Untersuchung zum Ideal des (alt)stoischen Weisen und zum stoischen Weisheitsbegriff. Sie ist äußerst solide und gewissenhaft gearbeitet. Die relevanten Quellen, darunter auch weniger bekannte, werden im griechischen bzw. lateinischen Original und in englischer Übersetzung präsentiert und mit großer Genauigkeit, mit gebührender Vorsicht und gebotener Umsicht interpretiert. Dabei würdigt Brouwer die gesamte relevante wissenschaftliche Literatur, nicht nur die neuere und nicht nur, wie es inzwischen meist geschieht, die englischsprachige.

Allerdings bleiben bei aller analytischen Präzision und allem philologischen Detail doch auch ein paar Fragen offen. So ist eine der zentralen Thesen von Kap. 2, der Wechsel einer Person vom Status des Nichtweisen zum Status des Weisen sei außergewöhnlich, d. h. er komme äußerst selten vor, doch er habe auch eine ‚gewöhnliche' Seite insofern, als der plötzlich weise Werdende nunmehr genau so handle, wie er in der Phase vor der Wende gehandelt hat; er mache nur keine Fehler mehr. Wie ist in diesem Zusammenhang die Stelle DL VII, 121 zu verstehen, der Weise würde nach Art der Kyniker handeln (kynieîn t'auton)? Würde er sich auch bereits vor der Wende wie ein Kyniker verhalten? Oder wäre dieser ‚kurze Weg zur Tugend' vor der Wende für ihn noch eine Quelle des Irrtums? Ist nur der Weise in der Lage, in außergewöhnlicher Situation (kata peristasin) zwischen gut und schlecht zu unterscheiden, das Richtige zu treffen und gegebenenfalls Außergewöhnliches, ja Provozierendes und Abstoßendes, etwa Kannibalisches zu tun (geusesthai te kai anthrōpinōn sarkôn DL VII, 121)? Welchen Status haben die Aussagen Zenons über den Weisen in der durch wahre Freundschaft geprägten Polis der Weisen (Gemeinschaft des Besitzes, der Frauen, der Kinder, vgl. DL VII, 124;131)? Wie wäre das entsprechende Verhalten des Weisen in einer Gesellschaft von Nichtweisen in stoischem Sinn zu denken? Würde er auch da sich mit einer Frau verbinden und Kinder zeugen wie in Zenons Politeia (DL VII, 121), dies allerdings im landesüblichen institutionellen Rahmen einer Ehe? Wurde Zenons stark kynisch gefärbtes Weisheitsideal, wie es in den spärlichen Nachrichten über seine Politeia durchscheint, von Kleanthes und Chrysipp noch mitgetragen?

Brouwer gibt, wenn auch explizite Belege fehlen, nicht unplausible Gründe für seinen zugegeben tentativen Gedanken, den Übergang in den Status des Weisen „physiologisch" als Veränderung der Seele von einer Mischung aus Luft und Feuer in reines (göttliches) Feuer zu verstehen (p. 72-79) Doch lassen sich, wie er meint, tatsächlich mit diesem Gedanken auch wesentliche logische und ethische Paradoxa der stoischen Lehre erklären? Wohl nicht alle, und wohl nicht ganz eklatante. So behandelten die Stoiker (jedenfalls die alten Häupter) das Prädikat „gut" bzw. „schlecht" wie das Prädikat „wahr" bzw. „falsch" als nicht graduierbar (d.h. nicht in sich weiter differenzierbar). Demnach sind für sie alle Verfehlungen gleich (isa hēgeîsthai ta hamartēmata DL VII,120). Die von Brouwer vorgeschlagene physiologische Erklärung legt den Gedanken nahe, dass in der Seele des propkoptōn im Grad seines Fortschreitens in Richtung Tugend der Anteil der Luft in der Mischung aus Luft und Feuer immer geringer wird, bis schließlich, in einem qualitativen Umschlag, keinerlei Mischung mehr vorhanden, sondern die Seele des Weisen nun reines Feuer ist. Brouwer denkt wohl ähnlich, wenn er im Kontext des Gedankens der Eliminierung der Luft bzw. des Kalten aus der Seele des weise Werdenden schreibt: „after all, this might still imply gradualism" (p. 77). Hätte die graduelle Abnahme des Luftanteils keine Auswirkung auf die Qualität bzw. die noch mögliche Schwere seiner Verfehlungen? Oder besagte sie nur, dass der prokoptōn nach dem Grad seines Fortschritts immer seltener sich verfehlt? Herakleides von Tarsus, der Schüler Antipaters und Athenodor haben die Verfehlungen der Toren immerhin für ungleich gehalten (DL VII, 121). Paradoxerweise sprechen die vom Umschlag handelnden Quellen eine Sprache, die dem physiologischen Gedanken einer graduellen Abnahme des Luftanteils in der Seele des prokoptōn diametral entgegenstehen. Hier ist die Rede von einem Umschlag ins Konträre: Wer gestern noch äußerst häßlich und schlecht war, habe sich heute plötzlich in den Stand der Tugend verändert, und dies ohne vorausgehende Verminderung der Schlechtigkeit. Der Weise wechsle ‚in einem Augenblick' vom äußersten Zustand der Schlechtigkeit in einen äußersten Zustand der Tugend (vgl. Plutarch, Synopsis 1058B; ähnlich Plutarch, Profectus 75C-F = SVF III, 539 = FDS 1233). Wie passt das zusammen?

Solche und ähnliche Fragen hätte man gerne in der vorliegenden akribisch interpretierenden, vorbildhaft klar und differenziert argumentierenden Monographie zur Thematik des stoischen Weisen noch behandelt und geklärt gesehen. Die fraglos hohe Kompetenz des Autors lässt auf eine Fortsetzung der Forschung, der Diskussion und auf weitere Klärungen hoffen.

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