Monday, December 17, 2012

2012.12.43

Julien du Bouchet, Christophe Chandezon (ed.), Études sur Artémidore et l'interprétation des rêves, I. Rêves et société dans les civilisations du passé. Paris: Presses universitaires de Paris Ouest, 2012. Pp. 243. ISBN 9782840160809. €25.00 (pb).

Reviewed by Christine Walde, Johannes Gutenberg-Universität Mainz (waldec@uni-mainz.de)

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[Authors and titles are listed at the end of the review.]

Der vorliegende Band eröffnet eine Reihe, die ausschließlich den Oneirokritika Artemidors, dem einzigen überlieferten Traumdeutungslehrbuch der griechisch-römischen Antike, gewidmet sein wird. Diese Reihe, die wiederum eine Tagungsserie dokumentiert, begleitet den Entstehungsprozess einer zweisprachigen (griechisch- französischen) kommentierten Ausgabe des Werks, die von der 2007 gegründeten Groupe Artemidore um Julien du Bouchet und Christophe Chandezon vorbereitet wird.

Der Band umfasst sieben inhaltlich heterogene Beiträge unterschiedlicher Länge (zwischen 15 und 71 Seiten). Alle Artikel, deren Beiträger und Beiträgerinnen mit Ausnahme von Gregor Weber aus Frankreich stammen, sind auf einem hohen wissenschaftlichen Niveau und auch im guten Sinne informativ.1

Die ersten drei Artikel versuchen den kulturellen und sozialen Kontext, in dem der Traumdeuter wirkte, plastischer hervortreten zu lassen.

Christophe Chandezon (unter Mitarbeit von Julien du Bouchet) stellt in der Einleitung alle Zeugnisse zu Artemidors Biographie, seinem sozialen Umfeld und seinem geographischen Horizont zwischen Kleinasien und Italien zusammen und diskutiert kundig die bisher vorgeschlagenen Datierungsversuche. Er kann plausibel machen, dass Artemidor im Zeitraum von 140-200 n. Chr. aktiv war (p. 17). Interessant ist auch seine Beobachtung, dass Artemidor außer Rom und Italien keine anderen Gebiete des westlichen römischen Reichs oder Afrikas erwähnt. Vielmehr umspannt sein Gedankenraum Griechenland, Kleinasien und Rom, das auch für ihn das unangefochtene caput mundi ist.

Frédéric Maffre vergleicht die Münzprägung aus Artemidors Mutterstadt Daldis und die Oneirokritika hinsichtlich des Vorkommens und der Ikonographie von Gottheiten. Dies ist nicht zuletzt deshalb von Interesse, weil der Traumdeuter, obwohl er Bürger von Ephesos war, dennoch als Hommage an die Mutter, die Oneirokritika unter dem Namen Artemidoros Daldianos veröffentlichte und den Apollon Daldianos (Mystes) als seinen Schutzgott reklamierte. Auch wenn die reiche Münzproduktion der kleinasiatischen Städte hinsichtlich Apollon im Allgemeinen kein trennscharfes Bild in Bezug auf Daldis ergibt, so lässt sich aus den Funden speziell aus Daldis in Verbund mit den artemidorischen Zeugnissen durchaus eine speziell daldianische Ausprägung des Apollon mit individueller Epiklese (Mystes) glaubhaft machen.

Der Beitrag von Brigitte Pérez-Jean zu Artemidor und der Philosophie ist sicher der innovativste in diesem Band, denn die Autorin verlässt endgültig die eingefahrenen Forschungswege, die in Artemidor immer nur den mantikversessenen Scharlatan sehen, der sich in maximaler Distanz zu den rationalen Verfahren der Philosophen bewege.2 Sie akzeptiert, dass der Traumdeuter nicht nur von der Warte einer philosophischen Rationalität bewertet werden kann, sondern dass vorgängig erst einmal die Koordinaten seines eigenen Denkens beschrieben werden sollten. Ausgehend von solch einer Zustandsbeschreibung kann Pérez-Jean aufzeigen, wo und in welcher Form Artemidor in einem auf sein Erkenntnisinteresse gerichteten Eklektizismus philosophisches Gedankengut (Verhältnis zum Mantikverständnis der Stoa, zu den Traumtypologien der Philosophie usw.) in seine Oneirokritika integrierte, ohne selbst den Anspruch zu erheben, Philosoph zu sein. Trotz der nicht primär im Bereich der Philosophie zu definierenden Intentionen der Oneirokritika, kann Artemidor eine gute Kenntnis der hellenistischen Philosophenschulen attestiert werden, was damals zur selbstverständlichen intellektuellen Grundausrüstung eines Gebildeten gehörte. Die Oneirokritika zeigten vor allem Reflexe des synkretistischen „Medioplatonismus", der im zweiten nachchristlichen Jahrhundert die Dominanz des Stoizismus zu brechen suchte (p. 76-77). Doch könnte in seiner allegorischen Etymologie der Götternamen auch eine Annäherung an vergleichbare Deutungspraktiken des Stoikers Cornutus vermutet werden. Pérez-Jean skizziert weitere Forschungsperspektiven, etwa eine genauere Analyse der sekundären Ordnungskriterien der Oneirokritika und die Vorstellung der sechs Elemente, die ein Echo auf Sextus Empiricus sein könnten (p. 78). Es liessen sich meiner Meinung nach zu den Desiderata auch Artemidors Adaption aristotelischer Ordnungskriterien hinzufügen.

Während die ersten drei Beiträge sich dem soziokulturellen Umfeld und der Bildung Artemidors widmen, befassen sich die drei folgenden mit Sachthemen, über die dieOneirokritikaArtemidors auf verschiedenen Ebenen Auskunft geben (oder zu geben scheinen).

Gregor Weber untersucht in seinem konzisen Essay, inwiefern bei Artemidor der Tod und besonders Bestattungssitten und Vorstellungen über die postmortale Existenz/Nicht-Existenz figurieren. Weber legt luzide dar, auf welchen Ebenen des Werks diese Themenbereiche eine Rolle spielen (Traumsymbolik, Deutungsebene etc.), nicht außer Acht lassend, dass Traum, Schlaf und Tod ein dichtes Kraftfeld von Assoziationen und Vorstellungen bilden. Nach Webers Aussage entwirft Artemidor in den Oneirokritika keine homogene Vorstellungswelt, er biete jedoch eher umgekehrt viele wertvolle Hinweise auf Jenseitsvorstellungen und Bestattungsriten.

Danièle Auger richtet im mit Abstand längsten (über 70 Seiten!), z.T. aber auch problematischsten3 Beitrag das Augenmerk auf die 25 Textstellen, an denen Artemidor Theater und Theaterbezogenes erwähnt. Diese griechisch- französisch dargebotene Materialsammlung, die mit zahlreichen Abbildungen von konkreten Theatern usw. illustriert wird, kann vielleicht als Specimen der im Entstehen begriffenen zweisprachigen kommentierten Ausgabe gesehen werden. Interessanterweise geht es hier wirklich nur darum, wie Artemidor die zeitgenössische Theaterpraxis rezipiert/widerspiegelt und weniger um eine höchstens angedeutet realisierte Reflexion über den Traum und seine Affinität zu Theater/Fiktionalität. Der Schwerpunkt des Artikels liegt auf Artemidors persönlicher Kenntnis der griechischen Dramatiker, wie sie sich in den einschlägigen Zitaten manifestiert. Auger unterstellt Artemidor eine sehr simplifizierte Auffassung/Kenntnis von Theatergenres, bei denen er die attische Tragödie als Meistergattung favorisiere. Aber er unterscheide bei den zeitgenössischen Darbietungen nicht trennscharf zwischen Pantomimus und anderen Formen von Tanz/Akrobatik. Auch wenn hier systematisch die entsprechenden Bezüge Artemidors auf das Theater referiert werden, handelt es sich doch eher um eine kulturgeschichtliche Abhandlung zum antiken Theater und zu dessen griechischer Terminologie.

Christophe Chandezon wendet sich dem Thema Geld und Schulden in den Oneirokritika mit messerscharfer Rationalität zu, denn er stellt die Frage in den Raum, inwiefern die Oneirokritika überhaupt als Zeugnis für die Ökonomie der Zeit herangezogen werden könnten. Damit leistet er exemplarisch einen klärenden Beitrag zur Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem Traumdeutungslehrbuch und der zeitgenössischen Realität seines Verfassers. Nicht selten werden die Oneirokritika ja als Realien-Steinbruch für alle möglichen kulturellen Sachverhalte benutzt. Chandezon kann glaubhaft machen, dass die Oneirokritika in erwartbarem Masse die ökonomischen Verhältnisse der Zeit widerspiegeln, wobei hier zum einen eher über einen längeren Zeitraum stabile Muster (Wertschätzung des Silbers, Aufbewahrung von Geldwerten usw.) reproduziert würden, zum anderen aber insbesondere die moralisch-ethische Dimension von Geldverkehr und Kreditvergabe (auch hinsichtlich des einschlägigen Personals) in den Vordergrund gerückt würden. Insofern sei der Wert der Oneirokritika als eigenständige Quelle für die antike Ökonomie sehr begrenzt, hinsichtlich einer Mentalitätsgeschichte aber durchaus in gewissem Ausmaß aufschlussreich.

In den Beiträgen von Gregor Weber und von Christophe Chandezon wird also endlich einmal geklärt, was man von Artemidor nicht erwarten darf: die kohärente, systematische Darstellung eines bestimmten Sachgebiets lag nicht in der Intention oder dem gattungskonformen Gestaltungsspielraum eines Traumdeutungslehrbuchs. Die kulturhistorischen Fakten wurden geträumt und insofern — könnte man ergänzen —, selbst wenn sie auch in Realität vorkommen, doch fiktionalisiert. Die Deutungen wiederum spiegeln zwangsläufig die Lebenswelt der Klientel wieder, weil sich die Träumer aus den Deutungen in erster Hinsicht Handlungsanweisungen für bestimmte Aspekte ihres Lebens erwarten, das sich in einem bestimmten gesellschaftlich-kulturellen Kontext vollzieht. In Anschlag zu bringen wäre meines Erachtens aber trotzdem stärker die für uns schlecht abschätzbare Traditionsverhaftung der Traumdeutung: Artemidor sagt selbst, dass er die Traumelemente und ihre Deutung nicht nur aus der eigenen Praxis, sondern auch auf der Traumdeutungsliteratur früherer Zeiten (zurückreichend mindestens bis in die Zeit Alexanders des Großen) und aus Gesprächen mit anderen Traumdeutern gewonnen hat. Der Traditionsbezug könnte z.B. erklären, warum er in seinen theaterbezogenen Passagen die attische Tragödie favorisiert. Positiv gewendet bedeutet diese Mehrfachperspektivierung auf die Tradition und auf die eigene Praxis der Oneirokritik, dass Artemidor in vielen Bereichen ein fast enzyklopädisches Spektrum von kulturellen Tatbeständen und Meinungen darbietet, ohne dass diese aber als historische Fakten gewertet werden können. Negativ gekehrt werden die modernen Rezipienten nie zu Artemidors eigener Auffassung durchdringen.

Trotz des hohen Erkenntnisgewinns, den dieser Band beschert, bleibt weitgehend das, was Artemidor am meisten am Herzen liegt, nämlich die Praxis und Theorie der Traumdeutung, außerhalb des Betrachtungsfelds. An diesem Sachverhalt ändert auch der Beitrag von Anne-Marie Bernardi nichts, die recht summarisch die Kontexte und Entwicklung der Traumdeutung zwischen den Eckpfeilern der Oneirokritik, Artemidor (2. Jahrhundert) und dem byzantinischen Traumbuch des Achmet (ca. 10. Jahrhundert) umreißt und damit den Horizont zur Rezeptionsgeschichte der antiken Traumdeutung öffnet.

Der vorliegende Band ist ein wichtiger Beitrag zur aktuellen interdisziplinären Artemidor-Forschung, die verstärkt historische, philologische und kulturwissenschaftliche Ansätze vereint. Insofern ist in den nächsten Jahren sowohl durch die Groupe Artémidoreals auch andere Forschungsinitiativen4 ein großer Fortschritt in der Erforschung der OneirokritikaArtemidors und der Geschichte der antiken Traumdeutung im Allgemeinen zu erwarten. Man darf auf die weiteren Bände und auch die kommentierte griechisch-deutsche Übersetzung gespannt sein und wünscht der produktiven Arbeitsgruppe weiterhin gutes Gelingen.

Table of Contents

Avant-propos, p. 9
Introduction: Artémidore, le cadre historique, géographique et social d'une vie, p. 11
FrèdericMaffre: Artémidore, Daldis et les divinités locales sur les émissions provinciales romaines, p. 27
Brigitte Pérez-Jean: Artémidore et la philosophie de son temps, p. 53
Gregor Weber: Le rêve et la mort dans les Oneirokritika d'Artémidore, p. 79
Danièle Auger: Artémidore et le théâtre, p. 99
Christophe Chandezon: L'argent et le crédit dans le monde d'Artémidore, p. 171
Anne-Marie Bernardi: Regards sur l'onirocritique byzantine, p. 205
Bibliographie, p. 221
Tables des illustrations, p. 237
Index général, p. 239
Index des passages cités, p. 241


Notes:


1.   Der Band ist mit Ausnahme der Bibliographie, in der insbesondere die deutschen und englischen Titel besser Korrektur gelesen hätten werden müssen, gut ediert.
2.   Man vergleiche z.B. die Verachtung, die William H. Harris (Dreams and Experience in Classical Antiquity. Cambridge, Mass./London: Harvard University Press, 2009) Artemidor zuteilwerden lässt, obwohl er ohne Zweifel eine der wichtigsten Referenztexte zur antiken Traumdeutung darstellt.
3.   Problematisch ist zum Beispiel, dass Auger die bisher existierenden englischen, französischen, deutschen und italienischen Übersetzungen miteinander vergleicht, indem alle schon vorgängig ins Französische übersetzt werden, ohne dass die jeweiligen Originalübersetzungen angegeben würden (vgl. z.B. p. 109 und p. 110; Ausnahme p. 112, wo in der Fussnote für einmal das englische Original zitiert wird).
4.   Genannt seien exempli gratia der im Erscheinen begriffene Kommentar zu den Oneirokritikavon Daniel E. Harris-McCoy (Artemidorus' Oneirocritica: Text, Translation, and Commentary. Oxford University Press) und Steven Oberhelmans Sammelband zu Traumdeutung und Medizin (Dreams, Healing, and Medicine in Greece From Antiquity to the Present. Edited by Steven M. Oberhelman. Ashgate Publishing 2013 [in print]).

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