Sunday, December 11, 2011

2011.12.29

Diane Deufert, Matthias Bergius (1536-1592): antike Dichtungstradition im konfessionellen Zeitalter. Hypomnemata, Bd 186. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2011. Pp. 448. ISBN 9783525252956. €98.95.

Reviewed by Thomas Gärtner, Universität Köln (th-gaertner@gmx.de)

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Bei dem hier anzuzeigenden Buch handelt es sich um eine zum Druck erweiterte Fassung einer Göttinger Dissertation aus dem Wintersemester 2005/ 2006. Das Herzstück bildet eine kritische Edition nebst Übersetzung von Matthias Bergius´ carmen panegyricum auf den Einzug des Herzogs Julius in Braunschweig im Jahre 1569 (286 – 393).

Über eine bloße übersetzte Edition geht Deuferts Arbeit aber weit hinaus: Die Autorin bietet zunächst eine „biographische Skizze" von Bergius' Leben (18 – 42), der zuerst Rektor des Katharineums in Braunschweig und dann Professor in Altdorf war; den einschneidenden Wandel in seiner Laufbahn bewirkte seine Weigerung, die Konkordienformel zu unterschreiben; diese Weigerung führte zur Auseinandersetzung mit dem theologisch maßgebenden Martin Chemnitz und zum Verlust von Bergius' Schulleiterposition. Das von Deufert edierte carmen panegyricum gehört in die frühere Phase von Bergius´ Laufbahn, während der er sich noch in Einklang mit Chemnitz und den Braunschweiger Autoritäten befand.

Es folgt ein detaillierter Überblick über das gesamte „dichterische Werk" des Bergius (43 – 122), gegliedert in „episierende Dichtung", „dramatisierende Dichtung", „religiöse (Schul )dichtung", „protreptische Schulreden" und „Gelegenheitsdichtung". Dabei werden die einzelnen Werke äußerst detailliert und anschaulich paraphrasiert.

Der nächste Abschnitt des Werkes wendet sich dann dem carmen panegyricum selbst zu. Zunächst wird dessen „historischer Rahmen" geklärt (123 – 135), insbesondere „Julius´ Weg zur Herrschaft"; dieser führte über harte Auseinandersetzungen mit seinem noch dem Katholizismus anhängenden Vater, Heinrich dem Jüngeren, und war verbunden mit Verwicklungen zwischen dem Herzogtum und der Stadt Braunschweig. Hierauf folgt ein kurzes paraphrasierendes Kapitel über „Aufbau und Inhalt" des carmen panegyricum (136 – 143), ferner Abschnitte über die „Nachfolge Claudians" in der panegyrischen Gattung (144 – 157), über „Bild und Gegenbild des idealen Herrschers im konfessionellen Zeitalter" (158 – 191), wo insbesondere die spezifisch protestantischen und antikatholischen Züge des carmen panegyricum in den Blick genommen werden.

Die weiteren Kapitel widmen sich eher sprachlich-formalen Aspekten des carmen panegyricum, nämlich der Verstechnik und Stilistik (192 – 206) und – besonders ausführlich – dem „Umgang mit den literarischen Vorlagen" (207 – 278). Gerade im letzteren Abschnitt werden mit stupender Belesenheit die antiken, spätantiken und auch neulateinischen Vorbilder, welche Bergius in seinem carmen panegyricum kombiniert, nachgewiesen, wobei insbesondere – aber keineswegs ausschließlich – die Mittelszene des Gedichts analysiert wird, in der die Flußgottheit Oker ihre Flußnymphen zur Anfertigung eines Gewebes auffordert, auf welchem die gesamte welfische Genealogie des gefeierten Herzogs Julius dargestellt wird. Sprachliche Versehen sind hierbei äußerst selten (auf S. 268 ist im Zitat aus Theon κατὰ τοῦτο in κατὰ τοῦ τό entstellt).

In sämtlichen einleitenden Abschnitten sind die Ausführungen der Verfasserin luzide, eingehend und erschöpfend; sie zeugen von großem Fleiß (etwa bei der detaillierten Paraphrase der umfänglichen weiteren Werke des Bergius) und immenser Vertrautheit mit den einschlägigen Hilfsmitteln. Als in sprachlicher Hinsicht mustergültig ist nicht nur der Abschnitt über die Vorbilder der Flußgottszene, sondern auch die metrische Analyse hervorzuheben, welche immerhin einen interessanten Unterschied zur ansonsten von Bergius wenig variierten vergilischen Metrik, nämlich die Vorliebe für Monosyllaba am Versende, zutage fördert (202 f.). Die monographischen Abschnitte fügen sich nicht nur zu einer weithin lückenlosen Einleitung der Edition zusammen, sondern bilden geradezu eine eigene Monographie, welche die bislang wenig untersuchte Dichtung des Bergius erstmals umfassend erschließt.

Ergänzt werden die bislang besprochenen einleitenden Abschnitte durch drei Anhänge, einen Abdruck der prosaischen Autobiographie des Bergius (399 – 402, tuum auf S. 400, Z. 7, dürfte Korruptel aus tum sein), ein „Verzeichnis der Werke von Matthias Bergius" (403 – 419; es handelt sich um nicht weniger als 74 Werke, deren detaillierter Nachweis immensen bibliographischen Aufwand erfordert haben muß, aber der weiteren Bergius-Forschung erheblich nützen wird) und eine „Genealogie der Welfen" (420 – 422), die insbesondere bei der Lektüre der Gewebeekphrasis hilfreich ist. Literaturverzeichnis (423 – 435) und Register (436 – 448) beschließen den eindrucksvollen Band.

In den Vorbemerkungen zur übersetzten Ausgabe (279 – 284) werden die editorischen Prinzipien erläutert. Deufert bekennt sich zu der in Editionen von Renaissancedichtungen häufiger geübten Praxis, die Interpunktion der editio princeps beizubehalten, um so einem „Verlust an Historizität und Authentizität" (280) vorzubeugen. Dieses Prinzip wird durch ein einleuchtendes und instruktives textkritisches Beispiel erhärtet: In 561 f. ist in der Erstausgabe überliefert Quae (sc. facies caeli) moveat Scythici furias Aquilonis ad undas/ Asperet, immanis quo flamine turbo rotetur. Um das syntaktisch unerklärliche Nebeneinander von moveat und Asperet zu beheben, änderte Rehtmeyer in seinem 1722er Nachdruck Asperet in Asper et und zog das so hergestellte Attribut gegen die Interpunktion der Erstausgabe zum folgenden turbo. Dagegen zeigt Deufert, dass die Junktur asper … turbo singulär wäre, und ändert ihrerseits, an der Interpunktion der Erstausgabe festhaltend, im vorigen Vers ad undas überzeugend in et undas. Dabei kann sie sich auf das lucanische Vorbild Phars. V 603 f. Scythici vicit rabies aquilonis et undas/ Torsit stützen, welches das Enjambement et undas/ Asperet – und somit auch die Interpunktion der editio princeps – bestätigt.

So schlüssig dieses Ergebnis als solches auch ist – es scheint mir dennoch zweifelhaft, ob man mit diesem Einzelbeispiel die Notwendigkeit, die Interpunktion der editio princeps durchgehend festzuhalten, hinreichend begründen kann. Ein anderes Beispiel mag verdeutlichen, dass diese „authentische" Interpunktion durchaus auch auf Irrwege führen kann: In einer fiktivermaßen lange vor dem Regierungsantritt des Julius stattfindenden Unterredung des jungen Fürsten mit der Patria – an welche sich Julius, als die Regierungsgewalt nach dem Tod des Vaters auf ihn übergeht, erinnert – sagt er (195 ff., mit Interpunktion der editio princeps) Si vero hos fasces et quos grandaevus honores/ Obtinet, obtineatque diu pater, et mihi tandem/ Indulgere volet summus pater. Deufert (303/ 305) übersetzt „diese Regierung und die Ämter, die mein Großvater innehatte und die mein Vater lange innehaben möge". Julius´ Großvater, Heinrich der Ältere, starb jedoch 1514 (vgl. Deufert 422), also lange vor Julius´ Geburt (1528); mithin kann Julius dessen Herrschaft unmöglich mit dem Präsens Obtinet bezeichnen (welches Deufert wohl gerade wegen dieses chronologischen Problems ungenau mit „innehatte" übersetzt). Natürlich könnte mit grandaevus theoretisch der Großvater Julius´ umschrieben sein, doch viel näher liegt es, grandaevus einfach als Attribut zu pater zu verstehen (Heinrich der Jüngere regierte bis in sein 79. Lebensjahr). Deuferts Übersetzung kommt nur durch das Komma hinter Obtinet zustande, welches einen Subjektswechsel zu suggerieren scheint (vielleicht soll es ursprünglich nur signalisieren, dass diu ausschließlich mit obtineat zu verbinden ist). Tatsächlich dürften sich Obtinet und obtineat auf dasselbe Subjekt, nämlich Julius´ Vater beziehen (formal vergleichbar Ov. met. XIV 379 Me tenet et teneat per longum … aevum), und die Wiederholung mit Modusvariation forciert die Pietät des Sprechers, der keineswegs auf das baldige Ende der Herrschaft seines Vaters hoffte.

Demnach scheint eine durchgängige Konservierung der Interpunktion der editio princeps kontraproduktiv. Auch an anderen Stellen ergeben sich Schwierigkeiten: So übersetzt Deufert in 524 f. Immemor annorum, seniumque oblitus, in arma/ Dum ruit gemäß dem Komma vor in arma folgendermaßen: „Er dachte nicht an seine Jahre und vergaß seine Altersschwäche, als er zu den Waffen stürzte …", obwohl die Ellipse von fuit bzw. est hart ist und das unter Deuferts Similien zitierte, eng imitierte Vorbild Sil. Pun. V 568 ff. empfiehlt, Immemor und oblitus in den dum Satz zu ziehen – was auch bei Bergius einen glatteren syntaktischen Ablauf ergibt, wenn man es nach 523 (gemäß der editio princeps) bei einem Komma belässt und nicht (gemäß Deuferts Übersetzung) Punkt setzt.

In 750 wird die stilistisch anstößige doppelte Ablativwendung furtisque/ Arva aliena manu premere akzeptiert; aber furtisque gehört evidentermaßen zum vorigen Vers (latrociniis ditescere furtisque), und es gibt keinen Grund, das falsche Komma vor furtisque zu konservieren.1

Die Ausgabe ist im ganzen mustergültig angelegt mit drei Similienapparaten (klassische Vorbilder, neulateinische Vorbilder und werkinterne Parallelen bei Bergius) und einem kritischen Apparat, der die Lesarten der Erstausgabe, von Rehtmeyers 1722er Nachdruck und eine Reihe unumgänglicher Verbesserungen von Deufert enthält.2

Zum Text:

153: Da die Langmessung von fac belegt ist (ThLL VI 1, 82, 62 f.; an derselben Versstelle Sidon. carm. 7, 344), ist Deuferts Änderung in fac [ut] unnötig.

625 f. sumptis quo nemo promptior armis/ Inventus, namque animi praesentior. Die Parallelität zwischen promptior und praesentior ist so evident, daß ich, anstatt mit Deufert 199 Kürze und Hiat in der Penthemimeres anzunehmen (beides im carmen panegyricum belegt), lieber namque in das in klassischer Poesie gemiedene, jedoch in spätlateinischer Dichtung in anaphorischen Wendungen öfter belegte nemoque zu ändern erwäge.

981 ff. Par habitus, patria arma viris, par indole virtus,/ Mobilitas cunctorum eadem, et color unus equorum,/ Unus ubique vigor. Man möchte patria in paria ändern, um die Parallelität zu Par, par, eadem, unus und Unus zu komplettieren. Die Übersetzung ist ohne literarischen Anspruch und soll den lateinischen Text möglichst eng wiedergeben (284). Sie ist weitgehend fehlerfrei.

Einige Korrekturen und Anmerkungen:

119: vitae cura in diesem Zusammenhang eher „Sorge um das geistliche Leben" als „Sorge um den Lebensunterhalt".

221: mox kaum adnominal zu Deique/ … miti … nato, vielmehr als Ausdruck drängender Eile zu figite.

254 f.: nostri …/ Officii gehört zu ratio, nicht zu hac in parte.

292: merito omni nicht „mit Fug und Recht", sondern „durch jegliches Verdienst".

381: animos mentita verendos nicht „die ehrbaren Herzen belog" sondern „ehrbare Gesinnung erlog, d.h. vortäuschte".

596 spaciis brevioribus muß nicht auf die „geringere Lebenszeit" bezogen werden, sondern geht auf den geringeren Spielraum, den das Schicksal diesem Heinrich lässt, der nur Bruder Ottos des Großen ist (vgl. 34 einen sehr ähnlichen Ausdruck in bezug auf Julius´ Frühzeit vor seinem Herrschaftsantritt).

599: Die Antithese zwischen primum (in der Übersetzung weggelassen) und protinus (übersetzt als „aber gleichzeitig") wird nicht deutlich: Heinrich betrieb zunächst rebellierenderweise Krieg gegen seinen Bruder Otto den Großen, unterwarf sich ihm aber dann schnell.

641: luctu … transgressa nicht „in Trauer vorüberschreitend", sondern „an Trauer übertreffend".

757: longe illis antra etc. („weit abgelegen haben sie ihre Höhlen …") keine topographische Angabe, sondern im Kontext (Albert stellt die Raubritter zum Kampf) eine rhetorische Pointe: „Jenen sind ihre abgelegenen Wohnsitze weit enfernt, d.h. nützen ihnen nichts". Vorbild ist die Prahlerei des Turnus in Aen. XII 52 Longe illi dea mater erit.

821 sole illabente „wenn das Sonnenlicht darauf fiel", nicht „wenn die Sonne unterging".

896 Cignorum soboles muß nicht „Schwanenfamilie" heißen, sondern kann einfach „Schwanensproß" bedeuten. Bergius lässt seine eigene Rolle als Dichter in renaissancetypischer Weise durch die Prophezeiung des Oker zementieren und denkt kaum an andere Dichter.

926: vix gehört nicht zu dem typisch hyperbolisch verwendeten Lassat, sondern es ist Quale iubar …/ … vix spargitur zu verbinden.

993: Deufert nimmt Hos inter multa vultus pietate verendos zusammen, doch eher ist nur Hos inter auf die proceres zu beziehen, und multa vultus pietate verendos geht auf Julius und steht pleonastisch neben Mitiaque ora.

995: florenti … in aevo nicht „zu blühender Zeit", sondern „in blühendem (Jugend)alter". Das Gleichnis rekurriert auf die Jugendzeit Adrasts, der dem Leser klassischer lateinischer Literatur vor allem als Greis aus der Thebais des Statius bekannt ist.

1070: pacatus kann nicht „als Friedensbringer" heißen, dazu müsste pacator im Lateinischen stehen.

1182: Das Relativpronomen qua bezieht sich nicht auf das davorstehende nota, sondern auf Hanc … lucem (1181, „diesen Tag", nicht „dieses leuchtende Ereignis"), vgl. das Insistieren auf dem dies sacer in 1190 ff.

1197 queis (sc. Musis) longa dies et nomina curae. Deufert übersetzt „denen das Tageswerk lang ist, denen [ruhmreiche] Namen zur Sorge gereichen". Aber Musen kennen keine Erschöpfung. longa dies et nomina ist als Hendiadyoin Subjekt zu curae sc. sunt: „die sich um den langdauernden Ruhm von Heldennamen sorgen".

Einzelne Kritikpunkte dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier über eine übersetzte Ausgabe hinaus ein bislang weithin unbekannter Autor erstmals monographisch erschlossen wird in einer Vielfalt und Breite, die in einer philologischen Erstlingsarbeit ihresgleichen sucht. Jeglicher Versuch, sich weitergehend mit den Dichtungen des Bergius zu beschäftigen, wird hier ein unerschütterliches Fundament finden.



Notes:


1.  Weiteres zur Interpunktion bzw. syntaktischen Abgrenzung: 444: Subjekt zu solvent formidine sind nicht Pietas und die Musen, die Deufert aus 445 f. herbeizieht, sondern gemäß dem Vorbild Verg. ecl. 4, 14 die verschwindenden Spuren der Übel (441).1031 f. und 1035 – 1038 sind als Jubelbekundungen der Volksmenge, also als direkte Rede, zu interpungieren und zu übersetzen (vgl. 1030 carmen, 1034 hoc hymno). An anderen Stellen notiert Deufert in der Erstausgabe nicht gekennzeichnete oratio recta im Apparat.
2.  Von den Similienapparaten abschließende Vollständigkeit zu erwarten wäre unbillig; in 306 veros habitura triumphos liegt eine sinnhaltige Kontrastimitation zu Luc. Phars. I 12 nullos habitura triumphos vor.

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